Was kann man tun? – Fall 6: „War das im KJHG so gemeint?“

Von Professorin Mechthild Seithe (Zukunftswerkstatt-Soziale-Arbeit.de)

Publiziert am 18.9.2014 von m.s.

Fortsetzung zum Thema „Das kann ich nicht mehr verantworten!“  – Kommentierung der Texte – Was tun? (6)

Text: „War das im KJHG so gemeint?“ Soziale Gruppenarbeit als kostengünstiger Ersatz für Einzelfallhilfe (Seithe/Wiesner-Rau 2013, S. 193)

Ich bin in einem sozialen Brennpunkt unserer Stadt tätig, in dem sehr viele Familien leben, die ihren Kids nicht die hinreichende Förderung und oft auch keine konstruktive Erziehung bieten können. Viele der Kinder sind so sehr gestört und auffällig, dass sie massive Unterstützung brauchen würden. Hier ist also Erziehungshilfe nötig.
Das Jugendamt fragte also bei meinem Träger an, ob er für acht Jungen aus dem Viertel, die unbedingt Erziehungshilfe bräuchten, eine Sozialpädagogische Gruppe nach § 29 anbieten könne. Der Träger sagte zu, vereinbarte aber mit dem Jugendamt, dass die Gruppe angesichts der massiven Problematik der Jungen nur sechs, statt der sonst üblichen acht Plätze bereitstellen würde. Immerhin.
Zusammen mit einem Kollegen biete ich diese Gruppe nun an. Wir haben insgesamt zwölf Stunden die Woche zur Verfügung, um mit den Jungen zu arbeiten, regelmäßige Elterngespräche zu führen und so weiter. Dreimal die Woche kommen die Jungen zu uns in unsere Räume, die um 13.30 Uhr, also direkt nach der Schule, bis gegen 16.00 Uhr geöffnet sind. Wir beschäftigen die Kids mit Hausaufgabenbetreuung, gemeinsamem Essen und Freizeitangeboten. Das klingt soweit alles ganz o. k.
Aber da sind viele Haken, die das Angebot fragwürdig machen:Einige der Jungen sind nämlich derartig gestört, dass sie eigentlich in der Jugendpsychiatrie behandelt werden müssten, mindestens aber in eine Sozialpädagogische Tagesgruppe gehören würden, wo deutlich mehr Zeit zur Verfügung steht und auch Einzelförderung möglich ist. Die Indikation für die Hilfemaßnahme „Soziale Gruppenarbeit“ stimmte hinten und vorne nicht: In einem Fall wurde das Kind in unsere Gruppe vermittelt, weil die Eltern eine Familienhilfe abgelehnt hatten, das Jugendamt aber irgendwas machen wollte, damit es diese Familie wenigstens im Auge behalten und auf diese Weise Kontrolle ausüben konnte. Ein anderer Junge in der Gruppe war aus der Heimunterbringung zurückgeführt worden. Die Familienhelfermaßnahme, die seine Heimrückführung begleiten sollte, wurde schon nach drei Wochen beendet, weil man – vermutlich aus Spargründen – der Meinung war, dass die Gruppenarbeit das auch hinkriegen könnte. Dieser Junge ist inzwischen wieder im Heim untergebracht, denn mit seinen Eltern wurde nicht gearbeitet und seine Reintegration in die Familie scheiterte. Kein Wunder, denn unsere Möglichkeiten sind verdammt begrenzt und wir konnten unmöglich leisten, was eine Familienhilfe oder auch ein Familienrat hätten leisten sollen.

Die Fälle sind also für unser Angebot oft gar nicht richtig. Sie sind viel zu schwer und es ist abzusehen, dass unsere Arbeit kaum mehr sein wird als ein Tropfen auf den heißen Stein. Kurioserweise werden wir aber trotzdem gerade vom Jugendamt angehalten, nach außen das Image der Gruppe zu verbessern, wie man sich ausdrückte. Es sei nämlich inzwischen allgemein bekannt, welche „Kracher“ uns für diese Gruppe zugewiesen wurden, und das schrecke andere Eltern ab. Wir müssen also so tun, als seien die Kinder gar nicht so „schlimm“, damit Eltern ermutigt werden, ihre Kinder bei uns anzumelden. Ich finde das schlicht verantwortungslos.
Von den sechs vorgesehenen Kindern sind letztlich nur drei wirklich in der Gruppe angemeldet worden. Offenbar war es dem Jugendamt nicht gelungen, die Familien, die sie im Auge hatten, zur Mitarbeit zu bewegen. Die Gruppe ist also nicht voll und damit viel zu teuer. Wir sind deshalb neuerdings auch angehalten zu sparen. Elterngespräche dürfen ab sofort nur noch von einem Mitarbeiter alleine geführt werden. Das ist ein fachlicher Einschnitt, den ich für unsinnig und ineffektiv halte, weil die Gespräche zu zweit wesentlich mehr bringen.
Und da sind noch mehr Kuriositäten: Zum Beispiel wird die Gruppe nach dem schon erwähnten § 29 bezahlt. Hier gilt, dass nur ein vereinfachter Hilfeplan für die Kinder geschrieben werden muss. Da pro Monat aber noch drei Stunden aus dem Topf für Familienhilfe dazu fließen (sonst hätte die Finanzierung nicht geklappt), müssen wir, nur um den formalen Regelungen zu genügen, außer dem vereinfachten auch noch den großen Hilfeplan mit allen Dokumentationen und Formularen erarbeiten, so als handele es sich eigentlich um Familienhilfe. Wahrscheinlich wird die Arbeit dann in der Statistik auch als Familienhilfe auftauchen. Absurd, denn genau diese Hilfe wäre bei den meisten der Kinder nötig gewesen, wird aber aus Kostengründen oder weil man die Eltern nicht dazu bewegen konnte, nicht bereitgestellt.
Nichts gegen einen guten Hilfeplan! Würde das Jugendamt den jedoch wirklich ernst nehmen, wäre in keinem der Fälle die Sozialpädagogische Gruppe die hinreichende und richtige Hilfe! Haben solche Berichte und Dokumentationen eigentlich überhaupt eine Bedeutung, außer dass sich alle die Hände in Unschuld waschen können, weil die Vorschriften brav erfüllt wurden?
Ich mag den Beruf, ich mag diese Jungen, aber es ist traurig, dass sie zwischen die Räder der Bürokratie geraten und Opfer der Sparpolitik werden, statt dass man ihren Anspruch auf Hilfe wirklich fachlich ernst nimmt.

Fachliche Kritik der beschriebenen Arbeit und Arbeitssituation

Die Kollegin kritisiert selbst, dass die gewährten Hilfen nicht die richtigen Sind und bei den betreffenden Jugendlichen nicht greifen können. Und sie hat Recht.
Man kann nicht mit unzureichenden Bedingungen Probleme angehen, die mehr, mehr Intensivität, mehr Nähe, zusätzliche Strategien etc. erfordern. Der Glaube, dass ein bisschen Soziale Arbeit wenigstens ein bisschen nützen wird, ist fachlich unvertretbar. Denn nicht selten schlägt eine zu kurzgegriffene Hilfe in ihrer Wirkung ins Gegenteil um. Erreicht wird hier ausschließlich, dass eine teurere Hilfe hinausgeschoben und damit angeblich Geld gespart werden kann. Was natürlich nicht stimmt, denn in solchen Fällen sind die dann schließlich doch nicht mehr zu vermeidenden Hilfen viel teurer. Ober aber es „gelingt“ der Jugendhilfe, die Betreffenden in ein anderes Finanzierungsystem abzuschieben (Psychiatrie z.B.) oder ihr herannahendes Erwachsenenalter auszusitzen.

Soziale Gruppenarbeit als Ersatz für Jugendpsychiatrie, für Familienhilfe oder für Rückführungsbegleitung erweist sich als eine Milchmädchenrechnung. Hier sparen die Verantwortlichen im Jugendamt und im Einvernehmen mit dem jeweiligen Träger, der den Auftrag bekomm(en will)t, schlicht Geld.

Unverantwortlich ist es auch, für eine solche schief angelegte Gruppe bei Eltern Werbung zu machen und die Probleme der Kinder herunterzuspielen. Dass von den SozialpädagogInnen zu verlangen grenzt an einen dienstlich angewiesenen Betrug.

Die Folgen, die dieses ungeeignete aber trotzdem durchgezogene Erziehungshilfemodell nach sich ziehen, setzen dem Ganzen noch eins drauf: Weil die Gruppe nicht voll wird (was wiederum bei den Problemlagen zu einer noch größeren Katastrophe führen würde), müssen die KollegInnen sparen. Das bedeutet, die ohnehin falsch und zu knapp kalkulierte Hilfe wird zusätzlich noch verwässert und verschlechtert: Elterngespräche zu zweit sind z.B. nicht mehr erlaubt.

Ans Absurde grenzen dann die Folgen für die verwaltungsmäßige Behandlung der Hilfe: Aus finanztechnischen Gründen werden die Gruppenhilfen behandelt wie die SPFH, also die Hilfe, die zum Teil eigentlich die angezeigte gewesen wäre, obwohl man bewusst eine Hilfe konstruiert hat, die deren Intensität nicht erreichen kann.

MitarbeiterInnen werden unter solchen Bedingungen verschlissen, weil sie am falschen Platz das Falsche tun müssen und schließlich auf noch für die Misserfolge verantwortlich gemacht werden. KlientInnen wird schlicht die Hilfe verweigert, die sie nach dem Gesetz hätten bekommen müssen. Eine individuell passende und auf ihre konkreten Bedarfe hin ausgerichtete Hilfe.

Gesellschaftswissenschaftliche und politische Analyse Hintergründe

Wie ist so eine unglaubliche Stümperei erklärbar?

Dass Jugendämter so vorgehen, ist nur damit erklärbar, dass sie durch die politischen Vorgaben im Jugendamt dazu angehalten und letztlich gezwungen werden, die Kostenfrage, d.h. die Vermeidung von Kosten, für den Kern der Jugendhilfe zu halten und entsprechend zu handeln. Das Vorgehen ist eindeutig Gesetz widrig. Dennoch scheint das keinen mehr zu kümmern. Hilfen werden nach Haushaltlage und nicht nach Bedarf vergeben. Hilfen werden nicht so entwickelt, wie eine fachliche Diagnose gefordert hätte, sondern es wird versucht, mit einer billigeren Variante das Gleiche oder irgendwas zu erreichen, auf jeden Fall Zeit zu schinden. Das ist ein Verständnis von Effizienz, dass selbst einem Betriebswirtschaftler die Haare zu Berge stehen lassen wird – es sei denn, das „Produkt“ wird weder ernst genommen noch wirklich für notwendig gehalten und es geht nur noch um den Anschein, tätig gewesen zu sein und das Gesetz erfüllt zu haben. Aber dann würde jeder Betriebswirt sagen, dass die Aufrechterhaltung dieses Scheines ziemlich ineffizient ist und es sinnvoller wäre, die Herstellung dieses „Produktes“ ganz einzustellen.

Das Jugendamt scheint nicht mehr die Behörde zu sein, die das Gesetz KJHG fachlich ausfüllt. Scheinbar hat sich die Aufgabenlage dahingehend verschoben, dass es versuchen soll, die dabei entstehenden Kosten so niedrig wie möglich zu halten.

Hintergrund einer solchen Verschiebung ist die Ökonomisierung unserer Gesellschaft, die eben auch vor dem Menschen selbst, vor Lebensbereichen wie Soziales, Bildung, Pflege, Gesundheit etc. nicht Halt macht und auch dieses in ihr ökonomisches Warenverständnis einbezieht und diese Bereiche nicht mehr als gesellschaftliche Aufgaben gegenüber Menschen betrachtet, sondern als Bereiche, in denen man Gewinne machen, Geschäfte betreiben und Menschen selbst als Gegenstände der Produktion von Marktprodukten betrachtet. Dies ist ein Verständnis menschlicher Gesellschaft, dass mit einer humanistisch orientierten Sozialen Arbeit nicht mehr vereinbar ist. Das gilt auch dann, wenn Träger, SozialarbeiterInnen, ja sogar manche Politikerinnen versuchen, unter diesen Bedingungen doch noch etwas für die Betroffenen herauszuholen.

Einschätzung der Reaktion der betroffenen SozialarbeiterIn

Der Träger scheint die Pläne kritischer zu sehen als das Jugendamt, denn immerhin hat er im Vertrag die Fallzahl der Gruppe von 8 auf 6 heruntergehandelt – was aber angesichts der Lage  keine wirkliche Lösung, höchstens eine Beruhigung, darstellt.

Die Sozialarbeiterin, die diese Geschichte erzählt hat, ist sich der Absurdität und der Unverantwortlichkeit ihrer Aufgabenstellung bewusst. Sie macht ihre Arbeit Tag für Tag angesichts dieser Erkenntnis und zweifelt an ihrem Sinn. Sie sieht die Ursache sehr richtig in der Sparpolitik.

Von Widerstandplänen oder offen geäußerter Kritik wird nicht berichtet. Schließlich ist sie umzingelt von lauter Leuten mit Entscheidungsmacht, die es eigentlich besser wissen müssten und die vermutlich die kritische Stimme einer Mitarbeiterin bei ihrem Deal nicht gebrauchen können. Da wird der Entschluss zu offenem Protest nicht leicht gemacht.

Grundsätzlich mögliche Handlungsperspektiven und Strategien der Gegenwehr im beschriebenen Beispiel

Was hätte die Kollegin in dieser Lage tun können?

Möglicherweise wäre es durchaus sinnvoll und auch erfolgversprechend gewesen, am besten gemeinsam mit der KollegIn, zunächst dem Träger und dann mit ihm zusammen (vorausgesetzt, er konnte überzeugt werden) dem Jugendamt auf die Pelle zu rücken und zu versuchen, mit sachlichen, fachlichen Argumenten darzulegen, dass das Gruppenangebot mit diesem Konzept – zumindest für sämtliche zugewiesenen Fälle, fehlschlagen muss und damit weder wirken kann noch im ökonomischen Sinne etwas bringen wird. Es ist nicht auszuschließen, dass solche fachliche Argumentation überzeugt und die Pläne zumindest im konkreten Fall zurückgenommen bzw. korrigiert werden. Wichtig wäre hier, das Thema nicht irgendwann nebenbei und schon gar nicht in Situationen, in denen man gerade besonders sauer oder enttäuscht ist, anzusprechen, sondern selbstbewusst um einen offiziellen Gesprächstermin zu bitten.

Nicht immer wird solchen Gesprächen stattgegeben und nicht immer sind die Vorgesetzten oder Jugendämter einsichtig. Leider passiert es oft genug, dass die mutigen KollegInnen abgewiesen, beschimpft, lächerlich gemacht oder gar mit Sanktionen bedroht werden. Hier ist es wichtig, Rückhalt zu haben, z.B. bei einer Gewerkschaft oder wenigstens bei einer Gruppe von SozialarbeiterInnen, die sich solidarisch verhalten und unterstützend.

Wenn dieser Weg nicht funktioniert, steht es frei, solche Praktiken  öffentlich anzuprangern. Hier ist immer wieder der Drahtseilakt zu leisten, dies zu tun, ohne sich selbst zu gefährden und ohne ein Dienstgeheimnis zu verraten. Eine Gruppe aber kann gemeinsam Leserbriefe, Flugblätter in die Welt setzen, ohne dass der konkrete Fall genannt und die konkrete Kollegin oder der Kollege seinen Namen preis geben müssten. Dennoch wird die öffentliche wie die sogenannte freie Jugendhilfe nervös reagieren und versuchen, sich zu wehren. Auch hier sind eine starke Organisation im Rücken und die Solidarität möglichst vieler KollegInnen ein reale und auch eine psychische Unterstützung.

Wenn es üblich wäre, dass Träger und vor allem auch die öffentliche Jugendhilfe mit öffentlich er und auch öffentlich wahrgenommener Kritik  aus berufspolitischer und fachliche Sicht rechnen müsste, würde so manches nicht praktiziert, was heute ohne Skrupel umgesetzt wird. Warum verleiht z.B. ver.di oder die GEW oder der DBSH nicht jährlich einen „Preis“ für den Träger oder das Jugendamt, das sich die „dicksten Hunde in der Ökonomisierung“ erlaubt hat oder das seine MitarbeiterInnen am schlechtesten behandelt hat? … Man könnte auch einen Preis ausloben für positive Beispiele. Aber meistens sind zumindest für die Presse Skandale interessanter.

Gegen die Grundproblematik der Ökonomisierung wird man am eigenen Arbeitsplatz kaum etwas ausrichten können. Was nicht heißt, dass wir uns mit diesem gesellschaftlichen Phänomen abfinden müssen. Hier zeigt sich die Notwendigkeit, sich über die direkte Soziale Arbeit am eigenen Arbeitsplatz hinaus politisch zu verbinden, auch zu organisieren und vor allem, sich als kritische Sozialarbeiterin einzumischen in den politischen Diskurs, da wo man lebt und wo man mit Menschen zusammenkommt.

Über m.s.

Ich war 18 Jahre Professorin für Soziale Arbeit an der FH Jena (Methoden, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialarbeit). Davor war ich 18 Jahre in der Praxis. Studiert habe ich Psychologie in Münster und Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. Bücher: Schwarzbuch Soziale Arbeit Engaging Hilfe zur Erziehung zwischen Professionalität und Kindeswohl Das kann ich nicht mehr verantworten Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung

Quelle: http://zukunftswerkstatt-soziale-arbeit.de/2014/09/18/was-kann-man-tun-fall-6-war-das-im-kjhg-so-gemeint/